Welchen Sinn macht 1. … Sc6 gegen 1. e4? Ganz im Geiste der sogenannten hypermodernen Schachschule (die auch rund 100 Jahre nach ihrem Entstehen immer noch so heißt) verzichtet Schwarz auf das direkte Besetzen oder Bedrohen eines der zentralen Zentrumsfelder mit einem Bauern. Stattdessen werden die Zentrumsfelder e5 und d4 von einer Figur, vom dark knight auf c6, unter Beschuss genommen. Beim Feld d4 ist dies nur ein schwacher Beschuss, denn durch die Deckung der weißen Dame könnte der weiße d-Bauer ja ungehemmt zwei Felder vorstoßen. Das Bestreichen des Feldes d4 durch den schwarzen Springer ist aber durchaus ernstgemeint; in nicht wenigen Abspielen, in denen es zu einem „skandinavischen Bauerntausch“ zwischen weißem e- und schwarzem d-Bauern kommt, erhält der Springer Schwerfigurenunterstützung auf der halboffenen d-Linie, und der Druck gegen d4 wird auf einmal sehr konkret. Das Feld e5 ist dagegen durchaus jetzt schon blockiert, der weiße e-Bauer kann ohne weitere Unterstützung nicht vorrücken.

Die meisten Partien „am Brett“ (over the board) beginnen folgendermaßen: Weiß macht seinen ersten Zug, Schwarz antwortet prompt, Weiß erwidert, Schwarz zieht – nur wenige Sekunden vergehen jeweils zwischen den Zügen. Je nach gewählter Eröffnung geht dies fünf, zehn oder mehr Züge so weiter – bis einer von beiden Spielern anfängt nachzudenken (oder auch zunächst nur länger in seinem Gedächtnis zu kramen). Denn das eigenständige Denken setzt typischerweise erst dann ein, wenn einer der beiden Spieler das Ende seiner Eröffnungserinnerungskette erreicht hat und sich allenfalls noch erinnert, ob die erreichte Stellung als vorteilhaft für ihn zu bewerten ist oder nicht. Hier fängt die Partie für ihn eigentlich erst an.

Was passiert nun nach 1. e4 Sc6? Der TDKS-Spieler lehnt sich entspannt zurück, oder steht auf und holt sich einen Kaffee – denn bereits jetzt, nach dem ersten Zug, fängt Weiß an zu denken.

Drehen wir das Brett einmal um und versetzen uns in die Situation des Anziehenden. Mit dem Königsbauernzug war natürlich eine Erwartungshaltung und ein bestimmtes Eröffnungsrepertoire verbunden. Auf Grund der statistischen Verteilung kann Weiß mit einer mehr als 75-prozentigen Wahrscheinlichkeit mit 1. … c5 (Sizilianisch), 1. … e5, 1. … e6 (Französisch) oder 1. … c6 (Caro-Kann) als Antwortzug rechnen. Der Erwartungswert (legt man die Megabase 2017 Datenbank zugrunde) für 1. … Sc6 liegt bei 0,7 Prozent.

Natürlich gibt es Gründe, warum die zuerst genannten Schwarzzüge mehr als hundertmal häufiger vorkommen (d. h. beliebter sind) als der Zug des dark knight. Naheliegender Grund aus Sicht des Weißen: 1. … Sc6 ist „faul“. Nun überlegt Weiß: Soll ich auf Widerlegung spielen, also das naheliegende 2. d4? Darauf wird mein Gegner ja mit Sicherheit vorbereitet sein, er will mich auf Abwege oder gar in Fallen locken. Soll ich mich darauf einlassen? Objektiv muss 2. d4 ja wohl das Beste sein, aber soll ich ihm diesen Gefallen tun?

Nur gut ein Drittel der Weiß-Spieler entscheidet sich für 2. d4. Zwei Drittel dagegen sagen sich: Was soll’s? Mein Gegner hat sich auf etwas Exotisches vorbereitet, aber den Gefallen tue ich ihm nicht. Ich spiele einfach normal weiter und komme durch Zugumstellung in meine vorbereitete offene Eröffnung.

Daraus ergibt sich der zweite Zug von Weiß entweder mit 2. Sf3 oder (seltener) 2. Sc3 oder einem Zug des weißfeldrigen Läufers (nach c4 oder b5). Denn wenn Weiß ursprünglich eine spanische Partie angestrebt hatte, spielt er jetzt 2. Sf3 (oder etwas verrückter 2. Lb5); zielte er auf Italienisch, spielt er ebenfalls 2. Sf3 (oder etwas verrückter 2. Lc4); galt der Wiener Partie seine Intention, zieht er 2. Sc3. Immer in der Erwartung, Schwarz könne jetzt nicht viel Sinnvolleres spielen als 2. … e5, und schon sei es alles nur eine witzige Zugumstellung hin zu einer „normalen“ Stellung gewesen, nicht mehr.

Drehen wir das Brett wieder um und setzen uns hinter die schwarzen Steine (mit einem frischen Kaffee ausgestattet). Hat Weiß die „Widerlegungsoption“ 2. d4 gewählt, so hat Schwarz die Wahl zwischen 2. … d5 und 2. … e5. Dies ist die klassische Nimzowitsch-Verteidigung mit all ihren spannenden Abspielen. Sozusagen das Fundament des TDKS (wenn dieses Fundament nicht tragen würde, wäre ja das ganze System gegen 1. e4 obsolet).

Wie aber begegnet man der „Zugumstellungs-Drohung“? Zunächst einmal ist dies keine echte Drohung, denn natürlich spricht überhaupt nichts dagegen, etwa gegen 2. Sf3 tatsächlich e5 zu spielen. Denn zumindest kann Schwarz durch diese Zugumstellung Königs- und Mittelgambit aus seiner Vorbereitung ausschließen. Aber der wahre TDKS-Spieler hat natürlich andere Absichten und will ausgetretene Eröffnungspfade vermeiden. Und dazu gibt es reichlich Möglichkeiten. So kann er etwa 2. Sf3 mit 2. … d5 (oder 2. … d6) beantworten oder gar mit 2. … f5!? Spätestens jetzt, beim Karneval-Gambit, wird sich Weiß überlegen, ob es wirklich eine gute Idee war, dem Widerlegungsversuch 2. d4 zu widerstehen.

Apropos Widerlegung: Neben der Theorie interessiert hier natürlich auch und gerade die Praxis. Daher ein kurzer Blick auf Statistisches.

In der Megabase 2017 (über 7 Mio. Meisterpartien mit einer durchschnittlichen ELO-Wertung der Spieler von 2.135 Punkten) erzielt Schwarz 46,4 % der möglichen Punkte. In nur rund 26.000 Partien in dieser Datenbank lauteten die Anfangszüge 1. e4 Sc6 – aber in diesen Partien erzielte Schwarz 47,3 % der möglichen Punkte. Noch etwas positiver ist die Statistik im Amateur-Onlineschach: rund 37 Mio.(!) Partien, gespielt auf dem Lichess-Server Juli bis September 2017, vermelden sowohl insgesamt wie nach 1. e4 Sc6 eine Erfolgsquote für Schwarz von 48,4 %. Ja, der Anzugsvorteil von Weiß ist vorhanden und messbar – aber The Dark Knight System gegen 1. e4 ist eine genauso erfolgversprechende Waffe wie Sizilianisch, Französisch oder all die anderen etablierten Eröffnungssysteme.