“Die Bedeutung konkreter Eröffnungskenntnis wird von den meisten Schachspielern, vom Laien und vom bescheidenen Vereinsspieler bis zum Großmeister, maßlos überschätzt. Entscheidend beim Schachspielen ist das Können und das allgemeine Verständnis, nicht das Eröffnungswissen.”

(Dr. Robert Hübner, Caissa 2/2016, S. 32)

Man kann sich vermutlich kaum ein unpassenderes Zitat vorstellen, um es den eigenen Ausführungen über ein Eröffnungssystem voranzustellen. Aber Hübner (einer der erfolgreichsten deutschen Schach-Großmeister überhaupt) hat Recht: die wenigsten Schachpartien (erst recht im Amateur-Schach) werden in der Eröffnung entschieden, und doch beschäftigt sich der weit überwiegende Teil der Schach-Literatur, Trainings-DVDs und Videos mit nichts anderem als mit Eröffnungen.

Das hat natürlich seine Gründe. Zum einen lässt sich die Eröffnungsphase viel leichter klassifizieren und kategorisieren als das Mittel- oder Endspiel. Die Ausgangsstellung ist halt immer dieselbe. Selbst die Systematisierung der Endspielphase (von den trivialen Endspielkonstellationen einmal abgesehen)  ist trotz der reduzierten Figurenanzahl auf dem Brett komplexer oder zumindest weniger überschaubar. Zum anderen erlaubt einem ein intensives Eröffnungsstudium, gute Züge quasi auswendig zu lernen; man muss sie gar nicht selbst am Brett finden und erreicht trotzdem am Ende der Eröffnungsphase eine vorteilhafte Stellung – wenn denn die eigene Erinnerungsleistung besser war als die des Gegners.

Denn genau so verstehen viele Spieler das Lernen von Eröffnungen: Haupt- und Nebenvarianten einer Eröffnung inclusive darin enthaltener Fallen auswendig lernen und dieses Wissen in der Partie abrufen. Das ist nicht unbedingt (eigentlich gar nicht) kreativ, aber – wenn man die Gedächtnisleistung erbringt – praktisch und durchaus erfolgversprechend. Andererseits, wie befriedigend ist ein Sieg, weil einem der Gegner in eine vorbereitete Eröffnungsfalle hineingelaufen ist? Hat hier der bessere Spieler gewonnen?

Natürlich ist Eröffnungstheorie ein spannendes und aufregendes Terrain, wenn man es eben nicht als Memory-Spiel begreift. Gute Theoriebücher und vor allem Eröffnungs-DVDs und Videos legen den Schwerpunkt auf die Motive und Ideen einer Eröffnung. Eine gute Eröffnungs-DVD bringt einen Spieler auch dann schachlich weiter, wenn er die behandelte Eröffnung gar nicht in seinem aktiven Spiel verwendet.

Der engagierte Amateurspieler steht somit vor der Frage, wie er das Thema Eröffnung für sich angehen will und welches konkrete Eröffnungsrepertoire für ihn sich daraus ergibt. Denn selbst unter Großmeistern gibt es nur wenige, die in ihrer Praxis die gesamte Vielfalt der Schacheröffnungen verwenden. Man spezialisiert sich, um Zeit und Ressourcen zu schonen.

Die Frage nach dem Repertoire stellt sich für den Amateurspieler der Natur des Spiels folgend gleich zweimal:

  1. Was spiele ich mit Weiß?
  2. Was spiele ich mit Schwarz?

Die erste Frage soll hier zunächst nicht weiter behandelt werden (man kann nicht alles auf einmal angehen). Hier geht es um die Frage, welches Eröffnungssystem man mit den schwarzen Steinen spielen soll. Die Antwort: The Dark Knight System (TDKS).

Die meisten Spieler werden hier bereits einwerfen, dass sich dahinter gleich mehrere Fragen verbergen: Was spiele ich mit Schwarz gegen 1. e4? Was gegen 1. d4? Gegen 1. c4, 1. Sf3?

Womit sich bereits der erste Vorteil des TDKS zeigt: Es gibt nur eine Antwort. Im TDKS spielt Schwarz im ersten Zug gegen (fast) alle weißen Anfangszüge 1. … Sc6 (eben den besagten dark knight). Die Eröffnungstheorie, die nach festen Zugfolgen (unter Berücksichtigung von Zugumstellungen) klassifiziert, kann damit natürlich wenig anfangen und hat unterschiedliche Bezeichnungen etwa für 1. e4 Sc6 (Nimzowitsch-Verteidigung) oder 1. d4 Sc6 (Mikenas-Verteidigung) vergeben. Den TDKS-Spieler interessiert dies nicht, er betrachtet alles als ein System mit vielfältigen Ausformungen.

Womit wir zum zweiten Vorteil des TDKS kommen: Schwarz nimmt die Eröffnungszügel in die Hand. Üblicherweise bestimmt Weiß durch seinen ersten Zug, wohin die Reise geht. Mit 1. e4 öffnet er die Welt der offenen und halb-offenen Eröffnungen, die indischen und geschlossenen Systeme sind mit dem ersten Zug bereits ausgeschlossen. Mit 1. d4 ergibt sich Umgekehrtes. Schwarz hat jeweils wegweisende Alternativen für seine Antwort, aber (in den klassischen Antwortzügen) aus einer begrenzten Anzahl. Mit 1. … Sc6 als Antwort auf alles ist die Auswahl zwar noch begrenzter (weil nicht vorhanden), aber für Weiß stellt sich sofort die Frage (das Problem), wohin denn hier die Reise gehen soll. Soll er versuchen, durch Zugumstellungen in Positionen zu gelangen, die er mit seinem ersten Zug angestrebt hatte? Oder sich in unbekanntes Terrain wagen, um den verrückten schwarzen Springerzug quasi am Brett zu widerlegen? Letztere Frage stellt sich insbesondere für einen Gegner, dessen Rating deutlich höher ist als das des Nachziehenden.

Womit wir zum dritten Vorteil des TDKS kommen: In den allermeisten Fällen wird der Weiß-Spieler überrascht, zumindest unvorbereitet sein. The Dark Knight System ist ein selten gespieltes System, das in der Eröffnungstheorie als minderwertig bis exotisch angesehen wird. Als minderwertig bewertete es die Theorie in der Zeit vor dem Aufkommen der Engines. So galt etwa die Zugfolge 1. e4 Sc6 2. d4 d5 3. Sc3 als nichts weniger als die Widerlegung des ganzen schwarzen Aufbaus. Der TDKS-Spieler ist glücklich, wenn er auf einen Gegner trifft, der das immer noch glaubt. Heute ist die theoretische Beurteilung (sofern es überhaupt eröffnungstheoretisch behandelt wird) vorsichtiger; GM Leonid Kritz etwa empfiehlt nach 1. e4 Sc6 gar nicht erst mit 2. d4 über Widerlegungsversuche nachzudenken, sondern stattdessen 2. Sf3 zu ziehen, um nach erwartetem 2. … e5 in „normale“ offene Eröffnungen wechseln zu können (eine Erwartung, die der erfahrene TDKS-Spieler natürlich zunichtemacht, aber dazu kommen wir später).

Nach 1. … Sc6 (und damit kommen wir zum vierten Vorteil des TDKS) bieten sich für Schwarz zudem zahlreiche Möglichkeiten, sein Spiel zu variieren. Diese Variationen sind keine Zugumstellungen, sondern führen zu sehr unterschiedlichen Aufstellungen, Stellungstypen und damit Plänen – und bei allen kann man davon ausgehen, dass der Gegenspieler sie zumindest so noch nicht oder selten auf dem Brett hatte. Spielt man dagegen das TDKS als Schwarzer regelmäßig, gewinnt man einen Erfahrungsvorteil in diesen verschiedenen Positionen – und Erfahrung ist etwas gänzlich anderes als auswendig gelerntes Variantenwissen.

TDKS ist somit das richtige System für Spieler, die abseits der ausgetretenen Eröffnungspfade ihr Spiel aufziehen wollen und möglichst früh in der Partie sich selbst und den Gegner ins eigenständige Denken zwingen. Auch TDKS ändert nichts daran, dass der Weiß-Spieler im Schach im Vorteil ist, weil er eben den ersten Zug hat (ähnlich wie der aufschlagende Spieler im Tennis); aber es zwingt den Anziehenden bereits in seinem zweiten Zug darüber nachzudenken, worin denn dieser Anzugsvorteil tatsächlich besteht und wie er ihn in unbekanntem Terrain mindestens behaupten kann.

The Dark Knight System ist sicherlich eine Überraschungswaffe, aber es erschöpft sich nicht darin. Es ist ein vollwertiges Eröffnungssystem, dass der Schwarz-Spieler auch dann unbekümmert einsetzen kann, wenn er weiß, dass sein Weiß spielender Gegner sich extra eine Woche Urlaub genommen hat, um sich auf die Partie gegen 1. … Sc6 vorzubereiten.