Dass 2. Sf3 nicht nur der meistgespielte, sondern auch der meistempfohlene zweite Zug nach 1. e4 Sc6 ist, adelt The Dark Knight System als seriöse Eröffnung. Ist demnach doch die konsequente Besetzung des Zentrums mit 2. d4 mit so vielen Unwägbarkeiten und Risiken verbunden, dass Weiß davon Abstand nehmen und auf 2. … e5 mit Zugumstellung in klassische Königsbauerneröffungen setzen sollte.

Aus schwarzer Sicht ist dagegen prinzipiell gar nichts einzuwenden. Man darf 2. … e5 spielen und somit seine klassische Eröffnungsvorbereitung von Königs- und Mittelgambit, Wiener Partie u. a. befreien.

Noch schöner ist allerdings, dass Schwarz mehr Optionen hat, wovon ich 2. … d5 und 2. … f5!? als die wichtigsten erachte. Groß- und Weltmeister sehen das natürlich ganz anders: Magnus Carlsen, der in Blitz- und Schnellschachpartien durchaus 1. e4 Sc6 spielt (u. a. gegen Ex-Weltmeister Anand), antwortet auf 2. Sf3 mit d6. Er wird wissen, warum :-), und sobald ich mit 2. … d5 und 2. … f5!? nicht mehr weiterkommen sollte, werde ich mich mit dieser Option näher beschäftigen.

1.e4 Sc6 2.Sf3 d5

Der skandinavische Vorstoß des d-Bauern ist logisch und führt zu einer Nebenvariante der Skandinavischen Verteidigung, in der Weiß im dritten Zug Sf3 (statt Sc3) spielt. In besagter Nebenvariante wird jedoch weit häufiger mit Sf6 oder Lg4 statt mit Sc6 fortgesetzt. Nun, im TDKS muss man sich darüber nicht den Kopf zerbrechen; der dark knight hat diese Wahlmöglichkeit bereits im ersten Zug ausgeschlossen.

Der scharze Plan ist vergleichsweise simpel: Lg4, wenn möglich e5 (sonst e6), 0-0-0 und Druck gegen den Bauern/Punkt d4. Dies ist meistens gut zu erreichen, wenn Weiß sich “ruhig” entwickelt; nur frühes agressiveres weißes Spiel stellt den Nachziehenden vor Herausforderungen.

1.e4 Sc6 2.Sf3 f5?!

Eine persönliche Reminiszenz sei erlaubt. In den 80er/90 er Jahren, als ich noch genügend Zeit hatte, um Schach intensiv over the board und im Verein zu spielen, zog ich regelmäßig 1. … Sc6 gegen 1. e4 (gegen 1. d4 kam mir damals der Gedanke ehrlich gesagt noch nicht, da bevorzugte ich Holländisch). Zugegebenermaßen ging meine Vorliebe für 1. e4 Sc6 eher auf jugendliche Begeisterung für ausgefallene Ideen als auf eröffnungstheoretische Analysen zurück, und der zwischen verwirrt und geschockt liegende Gesichtsausdruck meiner (meist älteren) Gegner war ein positiver Spaßfaktor an sich. Und so propagierte ich natürlich auch gegenüber meinen Vereinsfreunden die Vorzüge der Nimzowitsch-Verteidigung, allerdings ohne überzeugen zu können (kein anderer in meinem Club nahm Sc6 in sein Repertoire auf). Nicht zuletzt musste ich mir den – berechtigt erscheinenden – Hinweis gefallen lassen, nach 2. Sf3 sei doch alles nur eine Zugumstellung. Und in der Tat spielte ich selber lange gegen 2. Sf3 e5, um dann – wenn es auf Italienisch auslief, was in meiner damaligen Spielklasse überwiegend vorkam – zumindet mit Ungarisch (Le7 statt Lc5) wieder ein bisschen exotisch werden zu können.

Und so kam es an einem Karnevals-Freitag (für Nicht-Rheinländer: das ist der Tag zwischen Fettdonnerstag und dem langen Karnevalswochenende) im spärlich besuchten Clubraum mal wieder zu oben genannter Diskussion. Und ohne jeden Alkoholeinfluss (ich schwöre) spielte ich, provoziert von meinem feixenden Gegenspieler, in einer Blitzpartie spontan nach 2. Sf3 f5?! mit den Worten “Nix Zugumstellung!”. Keine Ahnung mehr, ob mich meine Vorliebe für Holländisch (gegen 1. d4) auf die Spontanidee gebracht hatte. Auf jeden Fall stellte sich in  mehreren unterhaltsamen Blitzpartien an diesem Abend heraus, dass 2. … f5?! zwar “bescheuert” aussah, aber mitnichten aus dem Stand zu widerlegen war. Das “Kareneval-Gambit” war geboren.

Jahre später erst erfuhr ich, dass ein Kind offensichtlich viele Väter haben kann. 1. e4 Sc6 2. Sf3 f5 ist in der Eröffnungstheorie natürlich nicht als Karneval-Gambit, sondern als Colorado-Verteidigung bekannt (die erste Partie soll 1978 in Colorado gespielt worden sein). Da es jedoch nicht unüblich ist, dieselbe Eröffnung im Deutschen mit anderen Namen zu bezeichnen (Spanische Eröffung vs. Ruy Lopez), halte ich hier an der Bezeichnung Karneval-Gambit fest.

Ich habe seitdem das Karneval-Gambit oline und offline in allen möglichen Bedenkzeitvarianten gespielt, vom Bullet- bis zum Fernschach! Der praktische Erfolg hat dabei immer die theoretischen Bedenken übertroffen. Ja, das Karneval-Gambit ist mit Sicherheit entweder interessant (!?) oder bedenklich (?!), vermutlich irgendwo dazwischen, aber !?! möchte ich nicht als zusätzliche Annotation erfinden. Zumindest ist es so interessant, dass GM Kritz es vor einigen Jahren in einem Chessbase-Video besprochen hat.

Den meisten Spaß macht die Variante sicherlich im Spiel over the board. Im günstigsten Fall trifft man auf einen (bleiben wir im Klischee: älteren) Gegner, der mit Weiß eine Spanische Partie, vielleicht gar die Abtauschvariante, anstrebt. Der bekommt nach 1. … Sc6 erst mal große Augen, und nach einer Viertelstunde Nachdenken entscheidet er sich gegen die “Widerlegung” 2. d4 und stellt sich mit 2. Sf3 auf 2. … e5 und weiter wie geplant ein. Und dem “knallt” man ohne Zögern 2. … f5 aufs Brett. Malen Sie sich seinen Gesichtsausdruck ruhig selber aus :-).

In den letzten Jahren habe ich mich (im Online-Spiel, für over the board reicht die Freizeit nicht mehr) verstärkt 2. … d5 zugewandt (auch hier mit gutem praktischen Erfolg). Meine Empfehlung für den Amateur-Spieler: erst mit dem etwas seriöseren 2. … d5 anfangen, und danach das Karneval-Gambit ins Repertoire aufnehmen; entweder um Gegner zu überraschen, oder um andere – die Ihr Repertoire kennen – gar davon abzuhalten, 2. Sf3 zu spielen.