Ein Plädoyer für Bird 1.f2-f4

Die Bird-Erönung 1. f2-f4, von mir auch gerne als “Feuervogel-Eröffnung” bezeichnet, ist die vielleicht am meisten unterschätzte Option, die Weiß in seinem ersten Zug hat. In derMegabase-Datenbank (Chessbase) von 2017 mit rd. 7,1 Mio. Meisterpartien rangiert 1. f2-f4 in der Beliebtheit der Eröffnungszüge nach 1. e2-e4, 1. d2-d4, 1.Sg1-f3 und 1. c2-c4 auf Platz 5 – allerdings mit einem gewaltigen Abstand: 1.c2-c4 wurde rund 10-mal so häufig gespielt wie 1. f2-f4.

Im Online-Schach, in dem zwar auch Meisterspieler aktiv sind, das aber in der Masse von Amateur- und Hobbyspielern geprägt ist, sieht es noch krasser aus: Im zufällig ausgewählten 1. Quartal 2019 mit knapp 100 Millionen(!) auf Lichess (www.lichess.org) gespielten Partien belegt die Bird-Eröffnung in der Beliebtheit der Eröffnungszüge nur Platz 8 – noch hinter 1. g2-g3, 1. b2-b3 und 1. e2-e3!

In den eröffnungstheoretischen Gesamtübersichten läuft die Bird-Erönung meist im Anhang der exotischen Varianten, die man vielleicht gelegentlich als Überraschungswaffe verwenden kann, aber mitnichten regelmäßig oder gar als Haupteröffnung im eigenen Repertoire spielen sollte. Und so finden sich in der Turnierpraxis auch kaum Großmeister und nur wenige Internationale Meister, die regelmäßig Bird spielen.

Der mäßige Ruf der Bird-Eröffnung mag auch ein wenig mit seinem Erfinder und Namengeber zusammenhängen. Henry Edward Bird (1829-1908) war zwar einer der besten Spieler Englands im 19. Jahrhundert – aber er gehört knapp nicht zum Kreis derjenigen, die noch heute als Klassiker gerühmt werden. Er spielte Wettkämpfe gegen die ganz Großen wie Paul Morphy, Wilhelm Steinitz und Emanuel Lasker, aber er verlor sie alle. Der Hinweis (fast schon ein Vorwurf), nicht einmal sein Erfinder hätte mit der Bird-Erönung auch nur durchschnittlichen Erfolg mit Weiß gehabt, übersieht dabei die Qualität seiner Gegner sowie den Umstand, dass Bird 1. f2-f4 „erfand“, bevor es eine ausgetüftelte Eröffnungstheorie der Holländischen Verteidigung (quasi Bird-Eröffnung mit Schwarz) gab.

Erwar einer derTeilnehmer des ersten Schachturniers der Neuzeit 1851 (London) – und schied in der ersten Runde gegen Bernhard Horwitz aus. Da gerät es fast in Vergessenheit, dass er im Clipper Chess Tournament (New York 1876) für seine Partie gegen Turniersieger James Mason den ersten Schönheitspreis der Schachgeschichte gewann („Mr. Bird wins the honors of the tourney“ – New York Clipper 28. Okt. 1876), leider nicht mit 1. f2-f4, sondern mit einer verzögerten Version der Abtauschvariante der Französischen Verteidigung – einer Eröffnungsvariante also, die wahrlich nicht im Ruf steht, schönheitspreisverdächtige Angriffspartien hervorzubringen.

Bird war vielleicht kein genialer, aber ein sehr eigenständiger Spieler – und eben für solch eigenständige Spieler, egal ob Meister oder Amateur, ist die nach ihm benannte Eröffnung 1. f2-f4 wie geschaffen.

Werfen wir einen Blick auf die Grundstellung. Nach den klassischen Empfehlungen der Schachtheorie sollte in der Eröffnungsphase die Aufmerksamkeit der Spieler zunächst dem Zentrum des Brettes gelten (gebildet aus den Feldern e4/d4 und e5/d5). Siegbert Tarrasch, praeceptor Germaniae der klassischen Schachschule, empfahl daher strikt 1. e2-e4 oder 1.d2-d4 als beste Eröffnungszüge für Weiß, da hier ein wichtiges Zentralfeld gleich mit einem Bauern besetzt und ein weiteres von eben diesem Bauern überdeckt wird (Tarrasch selber hätte dies weniger als Empfehlung, vielmehr als schachtheoretisches Dogma angesehen).

Die sogenannte hypermoderne Schachschule — die auch fast 100 Jahre nach ihrer Entstehung immer noch so heißt — relativierte dies, indem sie die Überdeckung von Zentralfeldern durch Leichtguren (Springer und fianchettierte Läufer) als gleichwertig mit der direkten Besetzung durch ein Bauernzentrum nachwies. Daraus entwickelte sich ein heftiger schachtheoretischer, durchaus auch persönlich zwischen Tarrasch und Nimzowitsch geführter Streit, der die Entwicklung der Schachtheorie enorm beflügelte.

Von den sogenannten Flankeneröffnungen gilt die Englische Eröffnung 1. c2-c4 in der Eröffnungstheorie unstrittig als seriös, auch wenn hier kein Zentralfeld besetzt, sondern nur eines (d5) überdeckt wird, und wer sein Schachleben lang als Weißer immer mit dem Flügelbauern 1.c2-c4 zieht, gilt als genauso „vernünftig“ wie die Anhänger des Damen- oder Königsbauern. Wer dagegen den anderen Flügelbauern 1. f2-f4 regelmäßig wählt, gilt mindestens als Exot (wenn nicht Schlimmeres). Warum ist das so?

Natürlich besteht keine vollständige Symmetrie zwischen der linken und der rechten Hälfte des Schachbretts, da Dame und König eben nur einmal im Figurensatz eines jeden Spielers vorhanden sind. Dies kommt auch zutreffend in den Bezeichnungen „Damenflügel“ und „Königsflügel“ zum Ausdruck, die selbst dann benutzt werden, wenn derweiße König lang rochiert hat und die Dame sich auf der rechten Spielhälfte (aus der Sicht desWeißen) tummelt. Der große Theoretiker Hans Kmoch hat sich vergeblich bemüht, die im Grunde irreführenden Begriffe Damen- und Königsflügel durch „Stoßflügel“ und „Rochadeflügel“ zu ersetzen.

1.c2-c4 überdeckt nicht nur ein Zentralfeld (d5), sondern entwickelt zudem die Dame (auf der Diagonale d1-a4), während 1. f2-f4 den König — der ja in der Eröffnung nicht vergleichbar entwickelt, sondern durch lange oder kurze Rochade in Sicherheit gebracht werden soll — augenscheinlich schwächt. Insoweit besteht ein grundsätzlicher Unterschied zwischen den Eröffnungszügen der beiden Flügelbauern c und f, der für die Bewertung der Bird-Eröffnung durchaus relevant ist. Andererseits gibt es genügend Eröffnungen und Varianten mit frühzeitigem
f2-f4 zwecks Bauernsturm gegen die schwarze (kurze) Rochadestellung, die als überaus gefährlich für Schwarz und chancenreich für Weiß gelten – sowohl mit kurzer wie mit langer Rochade durch Weiß. Kritiker der Bird-Eröffnung müssten also den Nachweis führen, dass f2-f4 im ersten Zug verfrüht und daher von Nachteil für Weiß ist. Ein solcher Nachweis ist bislang nicht erbracht.

Die grundsätzliche Kritik an der Bird-Eröffnung lässt sich stattdessen wie folgt zusammenfassen: Gegen 1. f2-f4 kann Schwarz „fast alles“ spielen, um bequem Ausgleich zu erzielen; Weiß kann hier seinen Anzugsvorteil nicht in messbaren Vorteil beim Übergang von der Eröffnung ins Mittelspiel umsetzen. Diese Ansicht scheint weit verbreitet, und das ist gut so – für den Bird-Spieler!

In den meisten Varianten der Bird-Eröffnung ist die Beachtung der korrekten Zugfolge, das auswendig gelernte Eröffnungswissen, nicht partieentscheidend. Zudem muss man als Bird-Spieler wenig Sorgen haben, eröffnungstheoretische Neuerungen zu verpassen, wenn man nicht regelmäßig alle Updates der Chessbase-Datenbanken durchforstet. Viel wichtiger ist das Wissen um und das Verständnis für langfristige Pläne. Damit ist die Bird-Eröffnung bestens geeignet für Spieler, die sich und ihren Gegner frühzeitig in eigenständiges Denken zwingen und aus der Sicherheit memorisierter Eröffnungsvarianten herauslocken wollen.

Gerade in Bird-Amateurpartien kann man häufig gut erkennen, wie Schwarz Einzelzüge macht (jeder für sich ein gesund und logisch aussehender Entwicklungszug), während Weiß sich nach einem konkreten Plan aufbaut. Erfreulicherweise gibt es davon gleich mehrere, von denen die wichtigsten (stark verkürzt) wie folgt lauten:

Klassischer Aufbau mit f4, Sf3, e3, d3, Le2, O-O und Durchsetzung von e3-e4

Damenfianchetto mit f4, Sf3, e3, b3, Lb2, Lb5 (nebst Abtausch dieses Läufers möglichst gegen einen Springer auf c6), O-O

Stonewall-Aufbau mit f4, e3, d4

Leningrader Variante mit f4, Sf3, g3, Lg2, O-O

Hinzu kommen – je nachdem, welchen Aufbau Schwarz wählt – Möglichkeiten des Übergangs in für Weiß günstige Varianten etwa der Pirc-Verteidigung oder des Grand-Prix-Attack (auch Sizilianisch mit 2.f4 genannt).

Die Leningrader Variante ist aktuell die Hauptvariante der Bird-Eröffnung auf Großmeisterniveau (fast die einzige Bird-Variante, die auf diesem Level gespielt wird). Darin werden Ideen aus der Leningrader Variante der Holländischen Verteidigung (1. d4 f5) übernommen und durch den Anzugsvorteil des Weißen verstärkt. Eine interessante Neuerung der letzten Jahre innerhalb der Leningrader Variante trägt den Namen „Polarbär-System“ – auch in der Namengebung ihrer Ideen sind Bird-Spieler eigenständig und unorthodox.

Doch auch wenn Großmeister den älteren Bird-Plänen keine ausreichenden Erfolgschancen mehr zuzutrauen scheinen, sind sie für Amateurspieler aufgrund ihrer Gradlinigkeit und Praxistauglichkeit wärmstens zu empfehlen. Um sie zu erlernen benötigt man keine Bibliothek an Schachliteratur und Jahre an Studienzeit. Die Literatur zu Bird inklusive Lernvideos passt ins Handgepäck.

Allen genannten Plänen ist gemeinsam, dass in aller RegelWeiß frei in seiner Wahl ist. Er bestimmt die Richtung der Partie, Schwarz ist in der Erönung überwiegend reaktiv tätig. Nur zwei schwarze Reaktionen gegen 1. f2-f4 zwingen Weiß zu frühzeitigen Entscheidungen und prinzipiellen Festlegungen: Das From-Gambit 1.f2-f4 e7-e5 sowie die (unterschätzte) Symmetrie-Variante 1. f2-f4 f7-f5.

From-Gambit

(2021) 348 Seiten