Die meisten Aufbaupläne der Bird-Eröffnung beinhalten zumindest die Drohung eines Angriffs gegen den schwarzen Königsflügel. Dabei ist das weitere Vorrücken des f-Bauern nach f5, z. B. als Hebel gegen einen schwarzen Bauern auf g6 (wenn sich Schwarz – was häug der Fall ist – für eine kurze Rochade mit fianchettiertem Läufer auf g7 entschieden hat), als Angrffisoption von Weiß gern gesehen. Das Vorrücken des f-Bauern im ersten Zug ist als Beginn einer Reise gedacht, nicht als ihr Ende.

Mit 1. f2–f4 f7–f5 jedoch erschafft Schwarz sofort und unvermeidbar eine Widderposition f4/f5 (seit Kmochs Klassiker „Die Kunst der Bauernführung“ werden zwei sich frontal und direkt gegenüberstehende Bauern als Widder, diagonal sich gegenüberliegende und damit schlagbereite Bauern als Hebel bezeichnet). Ein Widder ist wie Beton; ohne die Unterstützung weiterer Figuren oder hebelbildender Bauern auf den benachbarten Linien kann er aus sich heraus nicht aufgelöst werden. Je mehrWidder eine Bauernformation aufweist, um so unbeweglicher und festgefahrener ist die gesamte Stellung, was eher im Interesse des nach Ausgleich strebenden Nachziehenden ist, denn je unbeweglicher eine
Stellung ist, umso geringer wirkt sich der Anzugsvorteil aus.

Durch den frühzeitig gebildeten Widder f4/f5 schränkt Schwarz die Aufbaupläne des Anziehenden ein. Er bezahlt dies mit einer Schwächung seiner Königsstellung, die etwas schwerer wiegt als die des weißen Königs, eben weil Weiß den Anzugsvorteil hat. Für alle Symmetrievarianten gilt:Weiß ist leicht im Vorteil, weil Schwarz nicht beliebig symmetrische Züge spielen kann, da der Anziehende irgendwann durch Schlagen oder Schachgebot seinen Gegner zur Abweichung von der Symmetrie zwingt – und das Ziel von Weiß in Symmetrievarianten ist es, diese Abweichung in einem für ihn günstigen Moment zu erzwingen. Daher kann Weiß natürlich gegen die Symmetrievariante 1. f2–f4 f7–f5 mit normaler Entwicklung fortsetzen, z. B. mit einer Fianchettierung des schwarzfeldrigen Läufers (b2-b3, Lc1-b2), der sich in einem günstigen Moment etwa gegen einen Springer auf f6 tauschen kann.

Eine interessante Alternative zur normalen Entwicklung jedoch ist das aggressive From-Gambit mit vertauschten Farben: 1. f2-f4 f7-f5 2. e2-e4.

Dem Widder f4/f5 wird sofort mit dem Hebel e4xf5 begegnet, der Absicht des Nachziehenden zur Blockade des Bird-Bauern somit auf schärfste Weise widersprochen. Die Idee ist der des From-Gambits 1. f2-f4 e7-e5 offensichtlich ähnlich: rasche Entwicklung insbesondere des weißfeldrigen Läufers und der Dame und Angriff gegen den schwarzenKönig auf der durch das Verschwinden des schwarzen f-Bauern geschwächten Diagonale h5-e8. Der Preis für die sich daraus ergebenden Angriffschancen ist – wie im From-Gambit – ein Bauer. Weiß muss den Angriff zum Erfolg führen oder zumindest in seinem Verlauf den geopferten Bauern (möglichst mit positionellem Vorteil) zurückgewinnen.

Lakdawala versieht den Gambitzug e2-e4 mit einem glatten Ausrufezeichen
und bewertet (konsequent) gleich den ersten Zug von Schwarz f7-f5 als fragwürdig. Dem kann ich mich nicht anschließen (so gerne ich es täte), und auch Trent ist in seiner Bewertung zurückhaltender. Im Gegenteil scheint mir die Symmetrievariante gegen Bird unterschätzt zu sein —in der Annahme, die häuger gespielten Erwiderungen 1. f2-f4 d7-d5 oder 1. f2-f4 Sg8-f6 seien besser für Schwarz. Je stärker diese Annahme an Substanz verliert, um so interessanter wird die Symmetrievariante für Schwarz—und um so relevanter wiederum wird das From-Gambit mit vertauschten Farben (so denn Schwarz nicht zur verzögerten Symmetrievariante 1. f2-f4 e7-e6 2.Sg1-f3 f7-f5 greift, aber dies ist ein anderes Thema).

Das From-Gambit mit vertauschten Farben ist fürWeiß besser spielbar als das From-Gambit für Schwarz (aufgrund des Anzugsvorteils), aber es widerlegt nicht die Symmetrievariante und stellt sie auch nicht grundsätzlich in Frage. Wenn beide Seiten wissen, was sie tun, ergibt sich ein spannender, taktisch geprägter Kampf.

Andere Bezeichnungen für dieses Gambit lauten Wagner-Gambit oder auch Schweizer Gambit und gehen auf Alexander Wagner (1868-1942) zurück, der es allerdings nur auf die Nebenvariante 1.f2–f4 f7–f5 2.e2–e4!? f5xe4 3.Sb1–c3 (statt 3. d2-d3) bezog.

(2021) 348 Seiten