Bobby Fischer, unbestritten einer der größten Spieler aller Zeiten (obwohl nur von 1972 bis 1975 Schachweltmeister), hat Schach als „War over the board“ bezeichnet: „The object is to crush the opponent’s mind!“
Schach ist fürwahr kein kooperatives Spiel, aber das Duell ist ein abstraktes. Einen mentalen (oder gar körperlichen) crush des Gegners aber habe ich immer allenfalls als Kollateralschaden empfunden, nicht als object des Spiels! Nein, Schach ist kein war over the board. Fischer ist hier – wie in manchem, das er abseits des Schachbrettes geäußert hat – zu widersprechen.
Wer das aktuelle Geschehen insbesondere im Online-Schach betrachtet, sieht allerdings Fischer Verständnis des königlichen Spiels an vielen Stellen bestätigt: Hier scheint es ausschließlich um Punkte (insbesondere Rating-Punkte) zu gehen, und die am intensivsten diskutierten Themen sind nicht neue Varianten oder Spielideen, sondern ein- oder gegenseitige Cheating-Vorwürfe und die Vergleichbarkeit von Ratings auf verschiedenen Portalen mit „echten“ Ratings over the board. Auch die Verschiebung der Turnierformen weg vom klassischen Schach hin zu Fast-Blitz und Bullet ist unter diesem Gesichtspunkt zu sehen: Je geringer die Bedenkzeit, desto niedriger der qualitative Wert einer Schachpartie und umso relevanter der Partieausgang an sich (gerne auch durch das sogenannte Flaggen, das mit Schach nun wirklich gar nichts mehr zu tun hat). Daran ändern auch stark gespielte Blitz-Partien von Supergroßmeistern nichts: Verglichen mit ihren Fähigkeiten bei ausreichender Bedenkzeit spielen auch sie hier unter ihrem Niveau.
Ja, eine Schachpartie ist ein Wettkampf. Aber das ist der Sängerwettstreit der „Meistersinger von Nürnberg“ (oder – wer sich noch an seine Kinderbuchzeiten erinnert – der „Sängerkrieg der Heidehasen“) auch, und doch geht es dabei nicht nur um den puren Sieg oder gar um die Vernichtung des Gegners, sondern um den Sieg der Kunst und der Schönheit (entsprechend romantisch ist auch hier jeweils der Siegerpreis).
Auch in einer Schachpartie geht es nicht nur um Sieg (oder Remis gegen einen überlegenen Gegner), nicht nur um Ratingpunkte oder gar die „mentale Zerstörung“ des Gegners. Es geht mindestens auch um die Schönheit einer Partie, sei es in ihrem Gesamtbild, in einer Kombination oder auch nur in einem einzigen Zug, der nicht einfach nur stark ist, sondern die ästhetischen Sinne im Blick des Schachspielers in Verzückung versetzt – so er denn (noch) diese Sinne besitzt.
Dabei ist der Gegenspieler nicht nur Gegner (den es zu überwinden gilt), sondern auch kreativer Widerpart der eigenen künstlerischen Schöpfung. Denn das ist eine Schachpartie neben seinem Sport- und Duellcharakter eben auch: Kunst. Und wie jede Kunst auch ein wenig Wissenschaft.
Damit soll der Wettkampfcharakter einer Schachpartie nicht negiert, sondern nur relativiert werden. Auch über eine schöne Partie, die man am Ende verloren hat, wird sich der ehrgeizige Spieler ärgern (und er tut gut daran). Aber er wird sich an diese Partie länger erinnern als an den Sieg über einen stärkeren Gegner, der einzügig gepatzt oder gar einfach nur auf Zeit verloren hat. Und wenn Schönheit und Ausgang der Partie gar zusammenfallen, kann das damit verbundene Glücksgefühl vermutlich wirklich nur ein Schachspieler nachvollziehen.
Der Schriftsteller Patrick Rothfuss lässt seine Romanfiguren in der Fantasy-Welt von „Die Königsmörder-Chronik“ folgenden Dialog über das (erfundene) Spiel Tak führen, der sich ohne jede Änderung auf das reale Schachspiel übertragen lässt:
Bredons Miene besänftigte sich, und er klang fast flehend: „Tak spiegelt den Lauf der Welt. Es gleicht einem Spiegel, den wir dem Leben vorhalten. (…) In einer von guten Spielern gespielten Partie Tak zeigt sich das Wirken des menschlichen Geistes. Sie ist schön für den, der Schönheit zu sehen vermag.“
(…) Ich betrachtete das Brett. „Es geht also nicht um den Sieg?“, fragte ich.
„Es geht darum, ein schönes Spiel zu spielen!“, rief Bredon leidenschaftlich. Er hob mit einem Achselzucken die Hände, und auf seinem Gesicht erschien ein seliges Lächeln. „Was sollte ich anderes gewinnen wollen als ein schönes Spiel?“